Betreuungszentrum Lemgo

Details
Status Realisiert
Bauherr St. Loyen e. V., Lemgo
Baubeginn 1994
Fertigstellung 1997
BGF 10.600 m²
Nutzung Therapiezentrum und Altenpflegeheim

Es wird Lärm geben. Kinder, Passanten, vielleicht sogar das eine oder andere Fest im Park. Ob das die Bewohner stört? Alte Menschen brauchen ihre Ruhe, heißt es immer, wenn kritisch nach den trostlosen Altersheimen irgendwo am Stadtrand, fern allen urbanen Lebens, gefragt wird.
Die Totenstille der Heime wird es im westfällischen Lemgo nicht geben. Dort baute der Hamburger Architekt Jörg Friedrich das Wohn-und Betreuungszentrum St. Loyen, das den sonst nicht gerade aufregenden Bautypus des Altersheimes gründlich verändern dürfte.
Der Bauplatz: Ein sumpfiges Terrain, 500 Meter vom Stadtzentrum entfernt, umgeben von Wohnhäusern. Mit aufwendiger Technik wurde die bisher als unbaubar geltende Brachfläche kultiviert. Das Ergebnis: Ein innerstädtischer Park, ein kleiner See, ein Ensemble von dreigeschossigen, verputzten oder holzverschalteten Bauten- locker in der Parklandschaft verteilt.
Eine kleine weiß strahlende Stadt in der Stadt: Ein Experiment.
Die Architektur: modern und dekonstruktivistisch –im ursprünglichen Sinne des Wortes. Denn damit war keineswegs die furiose Chaos-Ästhetik zusammenstürzender Formen gemeint, sondern eine Denkhaltung: die kritische Demontage repressiver Ordnungen.
Friedrich nimmt das klassische Altersheim buchstäblich auseinander. Was entsteht, ist eine differenzierte Wohnlandschaft, eine andere Vorstellung vom Lebensumfeld alter Menschen.
Im zentralen Gebäude des Ensembles sind neben einem Restaurant, Läden und Gemeinschaftseinrichtungen verschiedene Pflegestationen vorgesehen, dazu 150 Therapieplätze und betreute Altenwohnungen. Neben diesem Zentrum, über Fußwege verbunden, zwei freistehende Gebäude. Eine großzügig verglaste Villa mit Maisonette-Wohnungen und Dachterassen, schräg gegenüber ein Bau mit subventionierten Appartments.Wohnungen für Menschen, die nur hin und wieder die Pflege-und Serviceleitung des benachbarten Therapiezentrums in Anspruch nehmen wollen oder müssen. Das „betreuungsnahe“ Wohnen in seinen verschiedenen Abstufungen soll eine behutsame Alternative zur Einweisung in ein geschlossenes Altersheim bieten. Ein sozialer und städtebaulicher Kunstgriff ist die Öffnung des Parks zur Stadt. Auf halbem Wege, in den künstlichen See geschoben und über ein Steg zu erreichen, liegt ein Kindergarten. Der sorgt für Leben im Park, für lebendigen Lärm.
Zwischen den Gebäuden entstehen Räume für Begegnungen – ohne die Aufdringlichkeit jener Wohnutopien, die unter dem Schlagwort der „Sozialmontage“ einst zusammenzwangen, was nicht zusammenpasste. Hier dagegen: keine Vorgabe, sondern ein Angebot.
Und die Fassaden? Keine Spur von nostalgischem Zierat. Die klare Geometrie erinnert Le Corbusiers frühe Villen und die Formen des italienischen Ragionalismo. Ein ungewöhnlicher Anblick, nicht nur für Lemgo. Können sich alte Menschen darin wohlfühlen? Andere Heime wirken wie Architektur- Chimären aus Palazzo, Tempel und Bauernkate. Nur: Allzu oft ist die Pracht ein ästhetischer Betrug des Benutzers, bloß optischer Verweis auf das, was der Raum nicht bietet. Hinter den Fassaden lauert, mit Neonröhren und Linoleumfußböden, die gleiche Misere wie in den ehrlichen Zweckbauten, die aus ihrer Trostlosigkeit schon außen keinen Hehl machen. Friedrich realisiert Wohnlichkeit nicht als Bild, sondern in der Dimension, die der Architektur eignet: im Raum.
Zum Beispiel das Hauptgebäude – ein langer Riegel, gegeneinander verschoben, geknickt und gekantet. Was entsteht, ist eine Vielzahl differenzierter Räume, weitläufige Blicke und geschützte Winkel. Passagen und eine halboffene Piazza, wo im Sommer in einem Restaurant gegessen wird.
Ein Raum, italienischer als jede toskanarote Dekor-Architektur. Die Umwandlung von Durchgangsräumen in Plätze für Begegnungen und Erlebnisse prägt auch den Innenraum. Lichtdurchflutete Laubengänge werden durch Sitznischen und Begrünung zu kleinen, fast vorgartenähnlichen Aufenthaltsräumen . Auch das Entree des Hauptgebäudes: ein lichtes Forum, ein öffentlicher Platz. Friedrich baut orte, nicht Häuser.
Den geschichts-und gesichtslosen Fassaden funktionaler Zweckbauten setzten postmoderne Gebäude das historische Zitat entgegen. Anders in Lemgo: Ein weißer Zylinder, umrahmt vom konstruktiven Gerüst. Im Sonnenlicht entsteht ein Schattenspiel auf dem Baukörper, das mit jeder Minute, mit Licht und Tageszeit wechselt. Ein Architekturbild, in dem sich das Statische und das Flüchtige verbinden. Auch das ist eine moderne Erfahrung. Baudelaire hat sie im „ Maler des modernen Lebens“ beschrieben. Monet hat ihr mit den Bildern der Kathedrale von Rouen ein Denkmal gesetzt: Immer der gleiche Ort, nie das gleiche Bild:
Auch in Lemgo zeigt sich: Baukultur ist immer auch die Kultur des Bauherren. Friedrichs Architektur wäre nicht möglich ohne die politische Entscheidung, den citynahen Standort für die Altenpflege zu reservieren. Das Betreuungszentrum ist nur ein Beispiel einer Baupolitik, die der Stadt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Ausloberpreis 1997, einbrachten.
Das Ensemble von St. Loyen, das in der nächsten Zeit offiziell eingeweiht wird, ist eine zweifache Hommage an die Moderne. Denn Friedrichs Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der modernen Architektur beschränkt sich nicht auf die virtuose Interpretation von Formen. Sie hält auch den sozialen Anspruch im Bewußtsein, der sich mit diesen Formen verband.

Niklas Maak